„Meine
liebste, liebe Emily!
Ich weiß
nicht, wie ich Dir all das sagen soll, was mein Herz bewegt. Ich bewundere Dich
schon so viele Jahre, und doch war es mir, sei es beim Tanzen oder beim
Picknick am See, nie gegeben, mich Dir zu ofenbaren. Zu Hause schaue ich in den
Spiegel und hasse meine Feigheit. Jetzt endlich aber muss ich meine zärtlichen
Gedanken aussprechen oder unrettbar irre werden. Ich fürchte mich Dir zu nahe
zu treten, und es wird mich viele Stunden kosten,
diesen
kurzen Brief wieder und wieder neu zu schreiben. Liebe, liebe Emily, sei meiner
Zuneigung und meiner Bereitschaft versichert, einen Teil meines Lebens in
Deiner Nähe oder mit Dir zu verbringen. Könntest Du mit der allermindesten
Freundlichkeit auf mich blicken,
ich wäre
schon überglücklich. Ich musste es mir verwehren, Deine Hand zu berühren. Und der
Gedanke an mehr, den aller kleinsten Kuss, lässt mich so sehr erbeben, dass ich
mich sogar erkühne, diese Worte auszusprechen. Meine Absichten sind ehrlich.
Wenn Du erlaubst,
möchte ich
gern mit Deinen Eltern sprechen. Bis zu dem Tag, dieser Stunde sende ich Dir meine
Verehrung und die liebevollsten Gedanken für Dein künftiges Leben und Dasein.“
Roses Stimme
klang bei diesen letzten Worten unüberhörbar spöttisch...
„Gezeichnet William Ross Fielding.“ Rose sah zu Emily. „William Ross
Fielding? Wer war denn
das, dir so zu schreiben, und bis über beide Ohren verliebt?“
„Oh Gott“,
rief Emily Bernice Watriss mit tränenblinden Augen. „Ich will auf der Stelle
totumfallen, wenn ich das weiß.“
Tag um Tag
kamen die Briefe, aber nicht mit der Post, sie wurden vielmehr um Mitternacht oder
im Morgengrauen in den Briefkasten gesteckt, damit Rose oder Emily sie laut
vorlesen und sich abwechselnd dabei die Augen abtupfen konnten. Tag um Tag bat
der Verfasser aus einem fernen Jahr Emily um Verzeihung, sorgte sich um ihre
Zukunft und empfahl sich mitelegantem Schnörkel und einem schon fast hörbaren
Seufzer: William Ross Fielding.
Und jeden
Tag, sagte Emily mit geschlossenen Augen: „Lies das nochmal, ich kann mir jetzt
beinah ein
Gesicht zu den Worten vorstellen!“
Am Ende der
Woche, als sechs alte Briefe schon auf den Stapel gelegt waren und rasch
zerfielen,
ward Emily von Erschöpfung ereilt und rief: „Schluss jetzt! Der Teufel hole
diesen
sündigen
Erpresser, der sein Gesicht nicht zeigt! Verbrenn sie!“
„Noch
nicht“, sagte Rose, die gerade mit einem gar nicht altersgelben, sondern einem
funkelnagelneuen
Umschlag herein kam, namenlos außen, namenlos innen. Emily, von den
Toten
auferstanden, riss ihn ihr aus der Hand und las: “Ich schäme mich, dass ich an
all
diesem
Verdruss mitgewirkt habe, der jetzt enden muss. Sie finden Ihre sämtliche Post
in 11
South St.
James. Verzeihen Sie mir.“ Und keine Unterschrift. „Das verstehe ich nicht“,
sagte
Emily. „Ganz
einfach“, sagte Rose. „Der dir diese Briefe zurückschickt, macht Avancen mit
Hilfe
dessen, was ein anderer, zur Zeit von Coolidges Präsidentschaft geschrieben
hat!“
„Mein Gott,
Rose, fühl nur mein Gesicht: glühend heiß. Warum sollte jemand dazu eine
Leiter
hinaufsteigen, einen Dachboden plündern und weglaufen? Er könnte sich doch
einfach
in unseren
Vorgarten stellen und brüllen?“
„Weil“,
sagte Rose ruhig, während sie den neuen Brief umdrehte, „derjenige, der das
hier
geschrieben
hat, vielleicht genauso schüchtern ist, wie William Ross Fielding es zu längst
vergessenen
Zeiten einmal war. Und nun?“
„Ich möchte
wissen...“, Emily blickte aus dem Fenster,“...wer wohl in 11 South St. James
wohnt.“